Ganze sechs Jahre vergehen im Schnitt zwischen der Diagnose und einer adäquaten Therapie von Angststörungen. Patienten mit dieser psychischen Erkrankung sind in der Regel gut behandelbar. Warum werden sie von vielen Ärzten erst so spät erkannt?
Über psychische Erkrankungen wird in den Medien inzwischen häufig berichtet – besonders über Depressionen und Suchterkrankungen. Die psychische Erkrankung, die weltweit am häufigsten vorkommt,
ist dagegen vergleichsweise unbekannt. Die Rede ist von Angst, genauer gesagt von Angststörungen. Die Betroffenen suchen deswegen oft keinen Arzt oder Psychotherapeuten auf – und auch die Ärzte selbst erkennen die Erkrankung häufig nicht. Worauf sollte der Hausarzt bei seinen Patienten achten und wann wird die Überweisung zum Facharzt nötig?
Sehr häufig, aber oft übersehen
Weltweit leiden schätzungsweise 275 Millionen Menschen an Angststörungen – das sind etwa vier Prozent der Weltbevölkerung. Zu diesem Ergebnis kommt das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) in Seattle (USA). Dabei treten Angststörungen in den verschiedenen Ländern der Welt etwa gleich häufig auf. Typisch ist, dass die meisten Angststörungen Frauen deutlich häufiger betreffen als Männer.
In Europa sind innerhalb eines Jahres etwa 14 Prozent der Bevölkerung von einer Angststörung betroffen. „Auch wenn Berichte in den Medien den Eindruck erwecken, dass Angststörungen häufiger werden: Ihre Häufigkeit hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht verändert“, sagt Angelika Erhardt, Leiterin der Ambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Der Eindruck entstehe möglicherweise dadurch, dass Angststörungen mittlerweile in der Bevölkerung bekannter seien, Patienten offener damit umgehen würden und auch Ärzte sie eher diagnostizieren würden.
Viele Betroffene ohne angemessene Behandlung
„Allerdings sind Angststörungen insgesamt sehr häufige psychische Erkrankungen“, betont die Expertin. „Problematisch ist außerdem, dass Angststörungen in vielen Fällen immer noch erst spät oder gar nicht diagnostiziert werden und oft nicht oder nicht angemessen behandelt werden.“ So vergehen im Durchschnitt sechs Jahre zwischen der Diagnose und einer adäquaten Behandlung. Und nur ein Drittel der Betroffenen erhält überhaupt eine angemessene Behandlung. Das hat verschiedene Gründe: Viele Patienten gehen gerade wegen ihrer Ängste nicht zum Arzt – oder sie gehen erst, wenn die Erkrankung schon seit Jahren besteht. Außerdem suchen viele Patienten wegen körperlicher Symptome (die mit den Ängsten zusammenhängen können) einen Arzt auf, berichten aber nicht von Angst – entweder aus Scham, oder weil ihnen selbst nicht bewusst ist, dass hinter den Symptomen Ängste stecken. Auch Ärzte konzentrieren sich hauptsächlich auf die körperlichen Beschwerden, so dass eine Angststörung unter Umständen lange nicht erkannt wird.
Dabei sollten gerade Hausärzte besonders auf Ängste achten. Denn sie sind für Patienten mit Angststörungen die wichtigsten medizinischen Ansprechpartner. Allgemeinärzte sollten daher die Symptome von Angsterkrankungen kennen und sie auch bei ihren Patienten erkennen. Sie sollten in der Lage sein, Angststörungen zu diagnostizieren und dazu beitragen, dass die Patienten frühzeitig eine angemessene Behandlung erhalten. „Ärzte sollten wissen, dass es wichtig ist, Angststörungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln – und dass sie in der Regel gut behandelbar sind“, so Erhardt. „Wird die Erkrankung rechtzeitig erkannt und behandelt, kommt es in 80 Prozent der Fälle zu einer sehr guten Besserung.“
Umgekehrt werden Angststörungen, die nicht rechtzeitig behandelt werden, oft chronisch. „Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass weitere psychische Erkrankungen dazu kommen, hoch“, betont Erhardt. „So tritt bei 80 Prozent der Betroffenen komorbid eine Depression auf. Auch das Risiko eines Substanzmissbrauchs oder einer -abhängigkeit ist hoch.“ Denn viele Betroffene greifen zu Beruhigungsmitteln oder Alkohol, um angstbesetzte Situationen zu „überstehen“. Darüber hinaus gibt es inzwischen deutliche Hinweise, dass Angsterkrankungen das Risiko für verschiedene körperliche Erkrankungen erhöhen können. So haben Studien ergeben, dass Ängste mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Krebserkrankungen und kardiovaskulären Erkrankungen einhergehen. Ob hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist bisher unklar.
Wann ist die Angst krankhaft?
Eine krankhafte von einer normalen Angst abzugrenzen, ist nicht immer einfach. Fast jeder Mensch erlebt ab und zu Angst, und diese ist oft auch sinnvoll – sie ermöglicht es zum Beispiel, auf Gefahren schnell und effizient zu reagieren. „Die wichtigsten Kriterien, um eine Angststörung von normaler Angst abzugrenzen, sind der Leidensdruck und die Einschränkungen, die jemand durch die Angst und damit zusammenhängenden körperlichen und psychischen Erscheinungen erlebt, etwa durch Vermeidungsverhalten“, erläutert Erhardt. Problematisch wird die Angst also, wenn sie die Lebensqualität stark beeinträchtigt oder wenn der Betroffene dadurch im Alltag, bei der Verwirklichung persönlicher Ziele, bei seinen sozialen Kontakten oder im Berufsleben stark beeinträchtigt ist. „Auch nach diesen Aspekten können Ärzte ihre Patienten fragen“, so die Expertin.
Weiterhin gibt es verschiedene Arten von Angststörungen mit typischen Symptomen, nach denen der Arzt konkret fragen kann. Am häufigsten sind spezifische Phobien: laut einer systematischen Review sind pro Jahr 10,3 Prozent der Bevölkerung davon betroffen. Charakteristisch ist die Angst vor bestimmten Situationen oder Dingen, wie Spinnen, Hunden, Höhe oder Blut. Allerdings suchen nur wenige Betroffene deswegen professionelle Hilfe auf. Denn diese Ängste beeinträchtigen das alltägliche Leben kaum.
Häufig ist auch die Panikstörung, die oft mit Agoraphobie einhergeht: Von dieser Kombination sind pro Jahr 6 Prozent der Bevölkerung betroffen. Es treten immer wieder plötzliche Angstattacken ohne erkennbare Ursache auf, die mit starken körperlichen Symptome einhergehen, wie Herzrasen, Atemnot, Zittern oder Übelkeit. Eine Agoraphobie kann Folge einer Panikstörung sein oder auch alleine auftreten. Als bedrohlich werden Situationen empfunden, aus denen der Phobiker nicht ohne weiteres flüchten kann z.B. eine Warteschlange im Supermarkt, eine Zugfahrt, ein Fahrstuhl. Typische Situationen, die Angst auslösen können, sind der Aufenthalt auf freien Plätzen, in Menschenmengen, in Kaufhäusern, beim Autofahren und beim weiten Entfernen von zu Hause. Sie meiden daher solche Situationen, was oft zu immer stärkeren Einschränkungen führt.
Etwas seltener sind die soziale Phobie mit 2,7 Prozent – die als einzige Angststörung Männer und Frauen gleich häufig betrifft – und die generalisierte Angststörung mit 2,2 Prozent. Menschen mit sozialer Phobie fürchten sich vor sozialen Situationen, in denen sie bewertet oder abgelehnt werden könnten, etwa einem Vortrag oder der Teilnahme an geselligen Veranstaltungen. Typisch für die generalisierte Angststörung sind Ängste und Sorgen, die die Betroffenen über längere Zeit fast ständig beschäftigen. Sie gehen oft mit körperlichen Symptomen einher, wie Herzklopfen, Schwindel oder Kopfschmerzen.
Körperliche Ursachen abklären – und Patienten auf mögliche Ängste ansprechen
„Es gibt viele Fortbildungsangebote für Allgemeinärzte, die auch rege wahrgenommen werden“, so die Expertin. „Die Ärzte wissen, dass sie in ihrer Praxis häufig Patienten mit Angsterkrankungen sehen. Sie haben daher großes Interesse an entsprechenden Weiterbildungen.“ Dennoch gibt es Aspekte, auf die Allgemeinärzte besonders achten sollten. Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung von Angststörungen sind beispielsweise in der S3-Leitlinie für Angststörungen zusammengefasst.
Wichtig ist zunächst, abzuklären, ob hinter den körperlichen Symptomen eine Angststörung stecken könnte – aber auch, ob Ängste, über die der Patient berichtet, auf eine körperliche Ursache zurückgehen könnten. Es sollte abgeklärt werden, ob eine Herz- oder Lungenerkrankung, eine Erkrankung der Schilddrüse oder Diabetes vorliegt und ob die Symptome auf Medikamente oder Substanzen wie Sucht- oder Genussmittel zurückzuführen sein könnten. Auf der anderen Seite können Symptome wie eine erhöhte Herzrate, Schwindel, Zittern, Spannungskopfschmerzen oder gastrointestinale Beschwerden auf starke innere Anspannung und vegetative Erregung zurückgehen – sie können also Symptome einer Angststörung sein.
„Lässt sich keine körperliche Ursache für die Beschwerden finden, sollte der Arzt auch Ängste als Ursache für die Beschwerden in Betracht ziehen“, sagt Erhardt. „In diesem Fall sollte er den Patienten auf dieses Thema ansprechen und ihn fragen, ob Ängste bestehen.“
Patienten nach ihren Ängsten zu fragen, ist nicht nur aus praktischer Sicht wichtig. Denn die Ängste anzusprechen und verständnisvoll darauf einzugehen, schafft Vertrauen – und kann die Basis für eine weitere Behandlung sein. Dabei kann der Arzt zugleich vermitteln, dass Ängste in der Regel gut behandelbar sind.
Ein Auszugsartikel der Doc Check.